GABRIEL KONDRATIUK

MOLE. Medium für kulturelle Nahversorgung, Tirol#06 2011 / Rosanna Dematté

Das Festland in der Tasche

Durch die Weiten der argentinischen Pampa bis zu den patagonischen Anden, von Buenos Aires nach El Bolsón ‒ 1.800 Kilometer Straße oder mehr als 24 Stunden im Bus. Gabriel Kondratiuk hat diese Busfahrt oft erlebt während seiner Studienjahre in der argentinischen Hauptstadt. Stundenlang hat er dabei aus dem Fenster gesehen, eine Fahrt vorbei an Landschafts-Stills aus Farben, Licht, Kontrasten, Empfindungen, die er nie zurückgelassen hat. Sie lieferten und liefern ihm die formalen Elemente für seine Arbeit. „Ich verwendete schon damals die verschiedenen Formate und Maltechniken so, wie ich sie vor Ort erfuhr und ergriff. Von Großformaten bis hin zu wesentlich kleineren Formaten, vom Monochromen zu helleren Farben, von nahezu abstrakten Formen zur Figuration.“

Aufgewachsen ist Kondratiuk in der kleinen Stadt El Bolsón, die noch durch die Hippiegemeinschaften der 1970er und als Künstlerkolonie bekannt ist. Er vergleicht sie heute gerne mit seinem neuen Lebensmittelpunkt als „eine Stadt an einem Fluss, sogar mit einer eigenen Nordkette. Eine patagonische Version von Innsbruck.“

Nach einigen Jahren in Buenos Aires spürte Kondratiuk die Notwendigkeit eines neuen Anfangs: „Ich wollte mein Kartenspiel neu mischen lassen.“ Nur wenige gute Karten nahm er nach Europa mit: eine Mappe mit einzelnen Arbeiten auf Papier als einziger Leitfaden seiner Geschichte. Die Karten des Zufalls führten ihn nach Patsch, wo Kondratiuk seit 2005 bei einer befreundeten Familie lebt und arbeitet. Hier genießt er die Vorteile eines Ortes mitten in der stillen Naturlandschaft und die unentbehrlichen Netzwerke der nahe gelegenen Stadt. Doch er schätzt auch die zentrale Lage Innsbrucks innerhalb Europas. Von hier aus kann er die Städte erreichen, in denen er in den letzten Jahren an Ausstellungen beteiligt war: Berlin, München, Madrid, Burgos. 

In einem Leben in Bewegung entdeckte der Künstler im Bewusstsein seiner Arbeit einen Fixpunkt. Egal auf welchem Erdteil er sich befinde, im Zeichnen und Malen mit Tusche, Ölkreide, Aquarell, Acryl auf Papier, Holzbrettern, Betonwände … finde er seine Achse. Die Kunst bestimme die Möglichkeit der Transformation und lasse ihn „den Sinn der Existenz“ spüren. 

Die Arbeiten der vergangenen Jahre zeigen die Dichte der vertikalen Landschaft der Anden und der Alpen. Sie bestehen noch aus Bruchstücken einer staunenden Wahrnehmung der Welt, die in einem mentalen Collage-Verfahren auf Papier gebracht wurden. In den aktuellen Arbeiten spiegelt sich jedoch eine Veränderung im Werdegang des Künstlers, sie scheinen jener „Urerfahrung“ der patagonischen Landschaft nicht mehr gerecht werden zu müssen. „Ich möchte eine Fiktion mit bereits erarbeiteten Elementen herstellen. Demnach werde ich angesichts des praktischen Antagonismus zwischen der Neuen und der Alten Welt, dem Norden und dem Süden, der Stadt und der Wildnis die Arbeit auf eine eher konzeptuelle Perspektive weiterentwickeln.“

Unscheinbare Gegenstände, verwelkende Pflanzen und menschliche Züge lassen sich erkennen, denn der Mensch steht nicht nur vor der Welt, sondern rückt immer mehr in die Welt hinein. Somit sollen sich auch der Betrachter und die Betrachterin wiedererkennen, ihnen wird ein Fixpunkt im ewigen Übergang angeboten. Diese Entwicklung scheint Teil der Verfestigung einer persönlichen Formensprache zu sein, die für jeden Künstler, jede Künstlerin wichtig ist. Sie erinnert aber auch an die Eroberung eines eigenen Festlandes, die für jeden Menschen wichtig ist, der spürt, dass das Spiel ernst werden kann.